Sammlung verschiedener Blogs zum Thema Autismus

Auf dieser Seite möchten wir euch die neuesten Beiträge verschiedener Blogs mit Informationen rund um das Thema Autismus zentral und einfach zugänglich zur Verfügung stellen.

Bitte beachtet, dass die Beiträge automatisiert von den einzelnen Blogs geladen werden und wir keinen Einfluss auf deren Inhalte haben. Selbstverständlich prüfen wir regelmäßig, ob einer der Beiträge gegen Gemeinschaftsrichtlinien verstößt und entfernen diesen in einem solchen Fall. Sollte dir dennoch einmal ein Beitrag auffallen, der beleidigend ist oder gegen die Netiquette verstößt, schreibe uns doch bitte eine Email mit einem Hinweis auf den entsprechenden Beitrag und warum du findest, dass dieser dagegen verstößt.

Wenn du selbst einen Blog zum Thema Autismus hast und mit in den "Planet" aufgenommen werden möchtest, kannst du dich ebenfalls gerne bei uns melden und wir klären die Details. Voraussetzung ist nur, dass der Blog ausschließlich auf das Thema Autismus ausgerichtet (oder du einen eigenen Feed für diese Kategorie hast) und als RSS-Feed abrufbar ist.

Das klingt doch auf den ersten Blick ganz einfach. Ich erkenne Stress und vermeide ihn. Wie wichtig das für unsere Kinder ist, möchte ich euch anhand unserer Erfahrungen mit Philipp, gestützt auf die Erkenntnisse aus dem Buch von Bo Hejlskov Elvén "Herausforderndes Verhalten vermeiden - Menschen mit Autismus und psychischen oder geistigen Einschränkungen positives Verhalten ermöglichen", zeigen.

Wir machen uns alle Stress und jeder erlebt ihn selbstverständlich anders. Für Autisten ist dies noch mal besonders und gerade für uns als Eltern autistischer Kinder oder Kindern mit geistiger oder emotionaler Einschränkungen liegt die Herausforderung darin zu erkennen, wann und wie unsere Kinder Stress erleben und wie man eben diesen vermeiden oder zumindest reduzieren kann.

Am Ende tut man sich und auch seinem Kind etwas Gutes.

Zuerst einmal müssen wir wissen, was Stress überhaupt bedeutet. Stress ist etwas, das sehr subjektiv wahrgenommen wird. Jeder hat seine eigene "Schmerzgrenze". Anhand des Diathesis-Stress-Modells lässt sich Stress wie folgt beschreiben. Durch bestimmte Faktoren, sogenannte Stressauslöser, steigt die Belastung eines Menschen. Signale, die persönlich unterschiedlich sein können, warnen schon vorab, wenn die Belastung zu hoch wird. Werden Stressauslöser nicht reduziert oder kommen weitere Faktoren hinzu, wird die Belastungs-Obergrenze überschritten und man verfällt in das sogenannte Chaos. 

Erweitert man das Diahtesis-Stress-Modell um Grund-Stress-Faktoren, so sieht man schnell, dass Stressauslöser, die vorher vielleicht noch knapp an der Schwelle zum Chaos waren, diese nun überschreiten. Ihr kennt das sicher von euch selbst, eine Nacht mit wenig Schlaf und schon ist man am nächsten Tag gereizter. Ähnlich kann man sich das bei unseren Kindern vorstellen, die meist ein oder gar mehrere Grund-Stress-Faktoren mit sich herumtragen. Bei meinem Sohn ganz oft einfach Schlafstörungen und seine Kommunikationsschwierigkeiten. 

Viele dieser Grund-Stress-Faktoren werdet ihr als Problem bei euren Kindern wiedererkennen. Andere sind euch vielleicht gar nicht bewusst, dass auch sie Stress auslösen können. Ich denke ja bei uns spielt das Thema Reizüberflutung zumindest im Zusammenhang mit dem Hören eine untergeordnete Rolle, da er wenn es ihm zuviel ist einfach die Hörgeräte rausmacht und dann seine Ruhe hat. Andererseits hat er aufgrund der Schwerhörigkeit auch eine höhere Höranstrengung, die ihn zusätzlich ermüdet. Einige Grund-Stress-Faktoren haben wir beispielsweise durch TEACCH zwar nicht gänzlich behoben, aber zumindest gemildert, da es uns hilft mehr Struktur in Philipps Leben zu bringen und uns auch eine (weitere) Möglichkeit der Kommunikation bietet. Genauso überdenken wir immer wieder unser Handeln, vor allem unsere Emotionen. Es ist bestimmt nicht leicht, immer ruhig zu bleiben, aber um so ruhiger man bleibt, umso ausgeglichener sind die Kinder.

Starke Emotionen treten natürlich auch situationsbedingt vor allem bei Streit und Konflikten auf, wodurch die Belastung steigt. Ich will mal behaupten eine Familie gänzlich ohne Konflikte ist doch in den meisten Fällen eher selten. Und trotzdem kann man es nicht oft genug betonen, umso unaufgeregter der Umgang mit einem autistischen Kind ist, umso ruhiger und ausgeglichener wird es sein. Man wird eine Situation viel schneller entschärfen, wenn man auf Aggressivität ruhig reagiert und auf keinen Fall das Kind durch das Demonstrieren körperlicher Stärke unter Kontrolle bringen möchte. So haben wir bei Anforderungen auch gelernt, wenn man wartet und ihm Zeit lässt, klappt es meistens. Zeit lassen, ihm die Gelegenheit lassen sich auf die Anforderung einzustellen. Wenn ich hier sitze und schreibe und mein Mann spricht mich an, so werde ich ihm auch kurz signalisieren, dass ich noch schnell meinen Satz zu Ende schreibe bevor ich antworten kann.

Damit wir mit Philipp kommunizieren können, versuchen wir natürlich nach wie vor die Lautsprache, aber auch Bildkarten und Gebärdensprache, was Stück für Stück zum Erfolg führt. So versuchen wir Tag für Tag Stress-Auslöser zu vermeiden, ja das klingt jetzt wie auf rohen Eiern laufen und ja, oft ist es so. Wir richten uns sehr viel nach Philipp. Aber wir leiden nicht darunter. Ganz im Gegenteil. All unsere Bemühungen führen dazu, dass wir ein relativ entspanntes Familienleben haben, mit Einschränkungen zwar, aber es funktioniert. Wenn wir beispielsweise zu Feiern eingeladen sind oder auf ein Fest gehen wollen, dann schauen wir immer, wie ist er drauf, wie war die Woche, der Tag. Einfach damit man es vermeiden kann, dass er auf der Feier dann gestresst ist und dort dann in egal welcher Form auffällt. Wenn wir wissen, dass noch anstrengende Tage folgen werden, dann lassen wir so eine Feier auch schon mal aus. Natürlich schaffen wir es auch nicht immer alles vorherzuplanen und so kommt es immer wieder einmal vor, dass er mit bestimmten Situationen überfordert ist. Das Thema "Essen" ist eine einzige Katastrophe bei uns. Ansatzweise essen tut Philipp nur, wenn er quasi von zwei Seiten bewacht wird, sonst rennt er grundsätzlich vom Tisch immer weg. Dass man ordentlich mit Besteck ist, haben wir bislang nahezu aufgegeben und damit er überhaupt etwas isst, müssen wir ihn meistens füttern. Also da steckt bei uns doch an den meisten Tagen reichlich Konfliktpotential dahinter.

Wenn wir also nun wissen, was die Stress-Faktoren unserer Kinder sind, dann kann man diese im besten Falle im Vorfeld schon vermeiden. Wie schon gesagt, es ist bestimmt nicht immer einfach und es bedarf sehr viel Planen und Vorausschauen, aber die Bemühungen lohnen sich. Am Ende bedeutet es nämlich stressfrei leben für die ganze Familie.

Nun lassen sich ja manche Situationen nicht grundsätzlich vermeiden, entweder weil es Grund-Stress-Faktoren sind, die sich nicht beseitigen lassen oder weil es ein spontanes Problem ist, das Stress verursacht. In diesem Fall sollte man unbedingt die Warnsignale erkennen, die einfach zeigen, dass das Kind kurz vor einer Überbelastung steht. Bei uns war es beispielsweise mit dem alten Kindergarten so. Es war so ein hinhungern zu den nächsten Ferien. Oft war Philipp bereits kurz nach den Ferien wieder so ausgelaugt, dass er zum einen total unmotiviert war und zum anderen extrem gereizt und aggressiv. Wir haben ihn dann öfter, sehr zum Missfallen des Kindergartens, mal einen Tag zuhause gelassen oder haben Ferien vorgezogen. Das war natürlich keine Dauerlösung, denn wenn ihn der Kindergarten so stresst, dann war es für ihn nicht das richtige Umfeld, was wir dann ja auch leider so erfahren haben und er nun in einen Heilpädagogischen Kindergarten geht.

Bei Philipp merkt man als erstes, wenn er sehr aggressiv wird, dass es ihm zu viel ist, er zieht sich dann mehr und mehr in seine Welt zurück und hat zu nichts mehr Lust. Was auch auffällt, dass er Dinge, die er kann, nicht mehr macht, so wird beispielsweise die Sprache schlechter. Er kämpft extrem mit Schlafstörungen, schläft schlecht ein und wacht nachts auf. In allem wirkt er unsicherer und ängstlicher, was wir von ihm so gar nicht kennen, wenn es ihm gut geht. Wenn er einer länger andauernden Überbelastung ausgesetzt ist, dann war es auch schon mal so weit, dass er regelrecht depressiv wirkte.

Wenn die Stress-Faktoren bleiben und man anfängliche Warnsignale missachtet, kommt es eben zum Überschreiten der Belastungsgrenze, das Kind versinkt im Chaos. Der sogenannte Overload. Das ist das Ergebnis einer einzelnen Stress-Situation, kann aber natürlich auch über einen längeren Zeitraum gehen, wenn es beispielsweise ein andauerndes Problem in der Schule gibt. Gewaltätigkeiten, sowohl körperliche Gewalt als auch teils stundenlanges Schreien sind eine Folge. Manche Situationen lösen Angst- und Panikattacken aus (siehe "Hurra, wir fahren nach München!"). Es kann aber auch soweit gehen, dass es zu schweren Selbstverletzungen bis hin zu Suizidversuchen kommt. Eine dauerhafte Überschreitung dieser Grenze kann zu schweren Depressionen, Psychosen, Essstörungen und Angstzuständen führen.

Zu wissen woher das Verhalten eurer Kinder kommt, bedeutet die Möglichkeit zur Handlung zu haben. Ihr könnt steuern, ob eure Kinder dieses gern beschriebene herausfordernde Verhalten zeigen oder nicht. Meines Erachtens nach hat es zumeist etwas mit Stress zu tun. Es ist nicht etwa eine Charaktereigenschaft eurer Kinder, dass sie gerne "böse" sind oder aggressiv sein wollen. Nein, es ist das Resultat eines Lebens, dem sie nicht gewachsen sind. Passt euren Alltag, das Umfeld an eure Kinder an und ihr werdet erkennen, was in euren Kindern steckt. Das ist kein Prozess, der sich von heute auf morgen vollzieht, aber es ist ein gangbarer Weg, der in erster Linie euren Kindern gut tun wird und euch auch wieder mehr Ruhe schenkt.

 

Wer braucht schon Schlaf? Ist schlafen nicht völlig überbewertet? Man könnte fast meinen, dass für Philipp schlafen wirklich eine lästige Nebensache des Lebens ist. Aber das war nicht immer so.

Was waren wir stolz auf Baby Philipp. Wir waren kaum vom Krankenhaus zuhause und schon klappte das mit dem Durchschlafen nachts. Ja, durchschlafen! Ich weiß noch genau, wie erschrocken ich morgens um kurz vor 7 aufwachte, nach unserer ersten Nacht zuhause, und dachte: "Oh mein Gott, ich hab den armen Philipp nicht gehört, weil ich so fest geschlafen hab". Ein schlechtes Gewissen überkam mich, dass mein süßes Baby nachts nicht gestillt wurde. Und natürlich überkam mich der schreckliche Gedanke, ob er denn schon noch atmete. Schließlich sollte er doch nachts wach werden und hunger haben. Unmöglich, dass er einfach so durchgeschlafen hatte. Und dann schaute ich in seine Wiege und da liegt er, ganz friedlich schlummernd. Ab da ging es mehr oder weniger so weiter. Ganz sicher, wir hatten riesiges Glück ein so einfaches Kind bekommen zu haben.

Aber es sollte ja nicht so bleiben....

Zunächst verlief alles reibungslos, selbst der Auszug aus unserem Bett in sein eigenes Bett und Zimmer. Alles hat Philipp so mitgemacht, kein weinen, nichts. Ein glückliches Baby (was das Schlafengehen betraf). Mit einem guten Jahr fing es dann an, dass er abends immer geweint hatte, wenn wir ihn ins Bett brachten. Es war jeden Abend das gleiche Ritual, gemeinsam kuscheln und dann ins Bett legen und das war gut so für ihn. Aber plötzlich eben nicht mehr. Er weinte und weinte. Erst nach mindestens zwei Stunden konnten wir ihn hinlegen. Es wurde aber immer extremer. Ich sang für ihn, wiegte ihn im Arm, mit Nachtlicht ohne Licht, Tür auflassen, alles haben wir versucht, aber es änderte nichts daran, dass er nicht mehr ohne Schreien einschlief.

Irgendwann, wir waren mittlerweile in unser jetziges Haus gezogen und ich war bereits schwanger, war es dann so extrem, dass er nicht einmal mehr in seinem Bett liegen blieb. Ich legte ihn in sein Bett, sang ihm seine Gute-Nacht-Lieder vor, kuschelte mit ihm bis er halbwegs runterkam. Anders brauchte ich es gar nicht erst versuchen das Zimmer zu verlassen. Doch das änderte nichts daran, dass ich mehrmals am Abend noch mal in sein Zimmer musste um ihn wieder hinzulegen. Er kletterte immer und immer wieder aus seinem Bett heraus. Das ganze zog sich dann gerne bis Mitternacht so hin. Ich war wirklich verzweifelt, zumal ich zu diesem Zeitpunkt abends aufgrund der Spätschicht meines Mannes immer alleine war.

Irgendwann habe ich dann wirklich aufgegeben. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt einfach nicht mehr. Also haben wir es uns allabendlich gemeinsam in unserem Bett oder auf der Couch gemütlich gemacht und wir haben tausende male entweder "Eiskönigin" oder "Dschungelbuch" angeschaut. Bis der Papa nach Hause kam, hat er dann doch geschlafen und mein Mann hat ihn ins Bett getragen. Uns ist schon klar, dass das nicht das beste so war, aber wie gesagt, ich hatte zu dem Zeitpunkt einfach nicht mehr gewusst, was ich noch tun soll.

Diese zweite Phase, in der er diese Einschlafprobleme hatte, ging lange. Bis ins Alter von 3 Jahren gehörte das eigentlich zu unserem täglichen Programm und dann wurde es zeitweise besser und wieder schlechter. Wir hatten dann langsam, auch weil wir mehr und mehr merkten, dass er in vielerlei Hinsicht anders ist, einiges in unserem Leben überdacht und auch was wir alles mit ihm anders machen müssten. Das führte dazu, dass wir unseren Alltag anfingen mehr zu strukturieren, auch für ihn verständlich zu strukturieren. Was unabdingbar war, um diese Einschlafprobleme zu vermeiden, feste Schlafenszeiten. Keine abgeänderten Schlafenszeiten fürs Wochenende oder Ferien. 

Es kam die Zeit da waren wir dann schließlich soweit, dass er, zwar nur im Beisein von mir oder dem Papa, innerhalb von einer oder eineinhalb Stunden eingeschlafen ist. Aber wenn eine Sache funktioniert, wartet ja meist schon das nächste Problem um die Ecke. Nun beschloss der liebe Philipp mitten in der Nacht aufzustehen und durchs Haus zu wandern, teilweise so leise, dass wir es gar nicht gehört hatten. Er ging dann ins Wohnzimmer runter, saß dann da im Dunkeln und mampfte glücklich Schokolade, die er sich aus dem Schrank geholt hatte. Mal bastelte er irgendwas weiter, was er tags zuvor angefangen hatte oder er schaltete sich den Fernseher an. Und so blieb er gut und gerne zwei bis drei Stunden oder für den Rest der Nacht wach. Nächte über Nächte schlugen wir uns so um die Ohren und gingen zeitweise echt auf dem Zahnfleisch.

Probleme rund ums Schlafen kommen bei Menschen mit Autismus oder geistigen Behinderungen sehr häufig vor. Bei uns sind es immer wieder Einschlafprobleme und auch Durchschlafprobleme. Vor allem, wenn ein Tag sehr anstrengend, sehr aufregend war, dann merkt man es wieder extrem, dass er noch weniger zur Ruhe kommt als sonst eh schon. Oder der absolute Horror, jedesmal zur Zeitumstellung. Danach brauchen wir wirklich wieder Wochen bis er wieder einigermaßen im Rhythmus ist.

Wir achten sehr auf einen strukturierten Tagesablauf, einen immer gleich bleibenden Tag-Nacht-Rhythmus, haben auch eine Gewichtsdecke für ihn, die anfänglich Besserung hoffen lies, probieren Lavendelbäder etc. Nichts hat das Problem gänzlich beseitigt und wir hangeln uns immer weiter von guten zu schlechteren Schlafphasen.

Wir haben akzeptiert, dass wir den Schlaf nehmen müssen, wie wir ihn bekommen. Genauso haben wir es so hingenommen, dass er von heute auf morgen panische Angst vor seinem Hochbett hatte, seitdem auf einer Matratze schläft und auch kein neues Bett haben will. Noch liegt seine Matratze neben dem Bettchen seines Bruders. Noch stört es Florian nicht, dass Philipp abends neben ihm liegt und seine Geräusche beim Einschlafen macht. Irgendwann wird er nicht mehr einschlafen können, denke ich mal, wenn Philipp so unruhig ist. Ich hoffe, dass Philipp bis dahin alleine schlafen kann, ohne dass er seinen Bruder als Sicherheit neben sich braucht.

Philipp ist besonders. Er lebt besonders. Er schläft besonders.

Schafe zählen hilft bei ihm nicht und sein Hahn kräht auch schon mal um 3 Uhr.

 

Ich bin mir sicher, dass sehr viele von euch diese Problematik kennen. Ihr zeigt Verständnis für Dinge, die eure besonderen Kinder einfach nicht anders können. Nicht weil sie nicht wollen oder weil sie sich nicht genug bemühen. Nein, sie können einfach schlichtweg nicht anders handeln. Der eine darf im Winter barfuß rauslaufen, der andere isst mit 8 Jahren noch mit den Händen, ein anderer sitzt den ganzen Tag am Tablet. Und immer wieder bekommt man von außen den Vorwurf zu hören, man dürfe seinem Kind ja nicht alles durchgehen lassen. Du musst dein Kind schon erziehen.

Boa! Wie so etwas nervt. Natürlich erziehen wir unsere Kinder. Es gibt Regeln und vor allem Strukturen. Wahrscheinlich ist unser Alltag strukturierter als bei manch anderen Familien mit "normalen" Kindern. Ohne diese Strukturen würde nämlich hier gar nichts funktionieren. Aber gut. Ich böse Mama lasse meinen fast 6-jährigen Sohn beispielsweise auch am Tablet spielen und er darf auch fernsehen. Nicht weil ich meine Ruhe haben möchte. Aber auch ohne Medien, wusste Philipp noch nie sehr viel mit Spielsachen anzufangen. Er spielt schon, aber eben nicht wie andere Kinder. Klar, hatte ich die Illusion, wenn wir ihm ein Tablet kaufen, dann würden nur wertvolle Förderspiele darauf sein. Ganz ehrlich, ich muss immer noch manchmal über meine Naivität lachen. Er brauchte nicht einmal eine Woche bis er herausfand wie man Spiele runterlädt. Aber nun gut, wir sehen es halt jetzt so, dass er sich mit mehr beschäftigt, als den ganzen Tag mit seinen imaginären Aufzügen zu fahren. Wir akzeptieren es, wenn auch reglementiert, so lange es funktioniert und er sich auch auf andere Dinge einlässt.

Akzeptieren, dass die Dinge mit einem besonderen Kind einfach manchmal anders laufen. Verständnis haben. Das ist das, was unsere Erziehung ausmacht. Jeder kennt das. Man weiß, wie man selbst erzogen wurde, übernimmt diese Art bewusst oder unbewusst. Andere schlagen vielleicht gerade deshalb auch einen komplett anderen Weg ein. Auf jeden Fall, wird die Art und Weise, wie wir selbst erzogen wurden, unser Erziehungsverhalten beeinflussen.

Aber was mache ich, wenn ich ein besonderes Kind habe und plötzlich all meine Kenntnisse über Erziehung absolut nicht greifen? Um konsequent zu erziehen muss mein Kind auch die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung erkennen. Wenn ein Kind die Folgen seines Handelns nicht versteht, wie soll dann eine daraus resultierende Reaktion aussehen? Einfach nur auf natürliche Konsequenzen, die sich aus dem Handeln ergeben, kann man bei einem Kind mit geringem Gefahrenbewusstsein auch nicht setzen.

Die Lösung ist für uns auf jeden Fall Verständnis und ein Bewusstsein dafür zu haben, dass man ein Kind hat, das anders denkt, fühlt und durch seine Wahrnehmung oft anders handelt. Natürlich sagen wir zu ihm, dass wir es nicht schön finden, wenn er etwas "falsch" macht oder er muss sich bei seinem Bruder entschuldigen, wenn er diesen gebissen hat. Aber wir wissen auch, dass das was Philipp ausmacht, uns immer begleiten wird. Wir können also die ganze Zeit maßregeln für Dinge, die er am Ende doch nicht ablegen kann, oder wir akzeptieren es und schauen stattdessen, dass wir unseren Alltag so gestalten, dass er gar nicht erst zu einem "Fehlverhalten" kommt.

Bei uns läuft absolut nicht alles perfekt. Bei wem schon. Und auch, wenn ich es sehr harmonisch und ruhig mag, so eskaliert es bei uns zuhause auch immer wieder mal. Bei uns gehört streiten und schimpfen genauso zu unserem Leben wie lachen und lieben. Und auch wenn ich ein eher hitziger Mensch bin, ist es mittlerweile schon so, dass wir uns bei Philipp um einen sehr ruhigen Umgang bemühen. Und es zahlt sich definitiv aus. Umso ruhiger, unaufgeregter wir sind, umso entspannter ist Philipp und somit unser kompletter Alltag.

Verständnis aufbringen. Das wichtigste in der Erziehung eines besonderen Kindes. Das bringt auch mit, dass meine Erwartungshaltung an das Kind sich an dieses anpasst, ich geduldig und ohne Zwang Aufforderungen stelle. Und ja, es heißt auch, dass ich in manchen Situation von meinem Vorhaben absehe und nachgebe.

Nachgeben. Oder wie manche sagen würden, dem Kind seinen Willen durchsetzen lassen. Mag vielleicht im Falle eines normalen Kindes falsch sein. Ich würde sagen, wenn sich ein Kind gegen etwas wehrt, dann steckt immer etwas dahinter. Muss man dann wirklich mit Zwang arbeiten, nur weil der Wille eines Erwachsenen mehr zählt. Ich will jetzt hier auf keinen Fall eine Grundsatzdebatte vom Zaun brechen über die Art und Weise wie man richtig erzieht. Das soll jeder für sich entscheiden und jeder macht es egal wie richtig. Ich möchte nur sagen, dass manchmal muss man vielleicht einfach hinterfragen, warum denn ein Kind gerade das nicht möchte oder kann, was man als Mama oder Papa von ihm will. Bei einem besonderen Kind, kann die Reaktion auf eine Anforderung mitunter schon mal eskalieren. Wutausbrüche, schlagen, schreien. Wenn so etwas bei uns passiert, breche ich in dem Moment ab. Ja, ich gebe nach. Was nicht heißt, dass ich das was ich möchte, nicht trotzdem erreichen will mit Philipp. Aber ich überdenke die Situation. Habe ich es falsch formuliert? Hat er mich nicht richtig verstanden? Muss er erst eine für ihn (vielleicht auch nur gedankliche) Handlung abschließen? Oder ist er mit der Art der Anforderung überfordert? Während ich also die Situation überdenke, gebe ich Philipp den Raum sich zu beruhigen. Und erst dann, wenn er wieder vollkommen ruhig ist, trete ich wieder an ihn heran und versuche es erneut, aber in angepasster Form.

Ist das nachgeben? Nein. Es ist eine verständnisvolle Erziehung.

Mir wurde mal, nachdem ich ein Beispiel eines missglückten Erziehungsversuches erzählte, gesagt, dass Philipp eine sehr große Macht über mich hat. Ich war entsetzt über diese Aussage, war aber wirklich zu müde mich wieder rechtfertigen zu müssen. Es ging um folgende Situation:

Philipp hatte vor nicht allzu langer Zeit beschlossen, dass er sich permanent im Auto abschnallte. Jedes mal, wenn das Auto zum Stehen kam, war der Gurt ab. Und nicht nur dann. Nein, irgendwann begann er damit, dass er während der Fahrt sich abgurtete und anfing von hinten nach vorne klettern zu wollen. Passierte schon auf der Autobahn innerhalb einer Baustelle ohne Standstreifen, auf der Bundesstraße usw. Ich war dann irgendwann so verzweifelt, dass ich eine Erziehungsmethode versuchte, auf die wahrscheinlich schon viele Eltern kamen. Der Satz aller Sätze in diesem Fall fiel. Wenn du deinen Gurt wieder wegmachst, dann musst du aussteigen und die Mama fährt alleine weiter. Gesagt getan, Philipp schnallte sich wieder ab, ich fuhr rechts ran und sagte ihm, er solle aussteigen. Er tat das auch, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich stieg ein und fuhr an (keine Sorge, wir waren auf einem Privatweg ohne Verkehr) und beobachtete ihn im Rückspiegel. In dem Moment als ich ihn so regungslos da stehen sah ohne jegliche Emotion, war mir klar, was ich für einen Blödsinn da machte. Es machte absolut keinen Sinn, denn er hatte nicht verstanden, was ich von ihm will. Ich blieb also nach wenigen Metern stehen und hab ihn wieder ins Auto geholt. Er zeigte weder Erleichterung, noch zeigte er sonst irgendeine Reaktion. 

Und eben aufgrund dieser Geschichte, kam die Person zu dem Schluss, dass Philipp über mich die Macht hat. Aber ich frage mich, wo hätte es hinführen sollen? Hätte ich ihn stehen lassen sollen und in fünf Minuten zurückkommen? Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die nicht vernünftig war, sondern lediglich auf Verzweiflung beruhte und als ich dies merkte, beendete ich diesen lächerlichen Versuch. Da war keine ausgeübte Macht, keine Manipulation von Philipp mir gegenüber und es war kein Nachgeben meinerseits. Es war einfach der falsche Weg. Wir haben schließlich durch viel kommentarloses Stehenbleiben, Angurten und auch vorne sitzen dürfen, es irgendwann geschafft, dass er den Gurt bis heute nicht mehr selber und schon gar nicht während der Fahrt abmacht.

Anderen in die Erziehung der Kinder einreden, sich ein Urteil schon von einer Situation bilden, ist ein Problem, das schon immer bestand und immer bestehen wird. Mit einem besonderen Kind, das sich halt oft nicht so benimmt, wie es die Gesellschaft erwartet, ist man da noch mehr der Kritik anderer ausgesetzt. Ich bin ehrlich, wenn Philipp draußen einen seiner Anfälle bekommt, will ich auch nur allzu oft davonlaufen. Nervige Blicke und gut gemeinte oder auch blöde Kommentare. Und obwohl ich es ja nicht aus Hilflosigkeit mache, dass ich sein Brüllen erst mal so hinnehme und Abstand halte, komme ich mir in diesem Moment, wo alle Blicke auf uns gerichtet sind, wie die schlechteste Mutter aller Zeiten vor. Ja und dann steht der gerade noch schreiende Philipp auf und ich inkonsequente Mutter kauf ihm auch noch einen Lutscher. Ja kaufe ich ihm. Die Situation ist vorbei und wir wollen einfach positiv weitermachen und das leitet der Lutscher ein (natürlich ist es nicht jedes mal ein Lutscher). Mittlerweile stehe ich da ziemlich drüber. Ich lass mich nicht zu einem Handeln zwingen, was am Ende die Situation nicht entschärft sondern verschlimmert.

Denn ich muss nicht handeln, wie es andere erwarten und mein Kind muss nicht sein, wie andere es haben wollen!

Wir haben ein Verständnis für unseren Sohn entwickelt um ihm den Raum zu lassen, der zu sein, der er ist und nicht zu sein, wie wir ihn haben wollen. Somit muss er nichts, aber wir sind da, um ihm zu zeigen, was er kann.

Verständnis und Liebe führen dazu, dass er sich weiterentwickelt. Kein Zwang und Muss bringt ihn zum Dazulernen. 

Und so wie bei uns Verständnis und Erziehung Hand in Hand gehen, so gehen wir auch Hand in Hand mit Philipp. Wir lernen jeden Tag dazu. Und vor allem lernen wir voneinander.

Wir sind alle verschieden. Jeder Mensch hat seine Kanten, seine Form, seine Rundungen, wie diese Steine hier. Und ein Leben lang werden wir zwar unsere Grundform beibehalten, aber wir werden immer wieder einen anderen Schliff haben.

Wie kleine herausgesprengte Felsbröckchen erblicken wir das Licht der Welt, das Gesicht noch zerknautscht, die Haut schrumpelig, ein Bewusstsein für sein eigenes Ich und für die Welt noch längst nicht ausgeprägt. Doch das ändert sich rasend schnell, die Wahrnehmung für unsere Umwelt, Entwicklungsprozesse führen schnell dazu, dass diese grobkantigen Furchen geglättet werden und aus dem ehemals zerklüfteten kleinen Felsbrocken entsteht ein kleines, wenn auch noch unförmiges Steinchen. Eltern, Erzieher, die gesamte Gesellschaft, selbst die Natur und sächliche Umwelt nimmt Einfluss auf uns und formt und feilt an uns, bis wir sind wer wir sind. Wir befinden uns in einem Strom. Nicht alleine, viele weitere Steinchen sind immer um uns herum und nehmen weiter Einfluss auf uns. Irgendwann sind wir glatt geschliffen, der Strom umschmiegt uns, wir fühlen uns wohl in unserem Leben, schwimmen gerne in dieser für uns sicheren Umgebung mit.

Doch was für uns eine sichere und wohlfühlende Welt bedeutet, ist für viele unserer Kinder eine Welt voller gefährlicher Stromschnellen. Unsere Kinder haben scharfe Ecken und Kanten, sie haben ein anderes Bewusstsein zu ihrer Umwelt und zu sich selbst entwickelt. Ihr schroffes Äußeres gibt ihnen Sicherheit, aber hindert sie auch daran, sich an all den glatten Steinen anzuschmiegen.

Jetzt ist es aber so, dass auch diese unförmigen Steinchen mitschwimmen möchten. Aber sie können es einfach nicht so gut. Sie versuchen es mit größter Anstrengung, was ihnen jede Menge Kraft abverlangt. Das führt dazu, dass sie sich auf andere Dinge nicht so gut konzentrieren können. Irgendwann fehlt die Energie mithalten zu können, so tun zu wollen als wäre man auch eines der glatten Steinchen. Und dann passiert es. Völlig ungewollt, als würde eine Stromschnelle es packen, schießt das furchige Steinchen mit voller Wucht quer durch den Strom. Stößt mit vielen anderen Steinen zusammen, einige sind böse aus ihrer Bahn gebracht worden zu sein, andere sind verwundert, jeder behält seinen Eindruck, einen Abdruck des Geschehens. Auch das scharfkantige Steinchen bleibt nicht ohne Schaden, kleine Ecken brechen ab, gehen für immer verloren und hinterlassen tiefe Wunden. Enttäuscht und verletzt rotiert das kleine schroffe Felsbröckchen weiter.

Es gibt einen Ort, da muss es nicht schwimmen können. Einen Ort, wo zwar auch glatte Steine sind, aber die sich mit all den Abdrücken, die das kantige Steinchen hinterlassen hat, abfinden. Steine, die unzählige Narben durch viele Kollisionen davongetragen haben. Narben, die eine Geschichte einer wilden turbulenten Zeit erzählen. Narben, die von einer ungetrübten und unerschütterlichen Liebe zeugen. Hier kann das Steinchen, das so gar nicht zu den anderen gesellschaftlich gewollten und genormten Steinen passt, sich ausruhen, Kraft tanken, einfach so sein wie es ist, mit all seinen Wutausbrüchen, überschwänglichen Gefühlen, seinen Ängsten, seinen intensiven Interessen, seinen Bedürfnissen, einfach ein kantiges furchiges Steinchen sein.

Verstecken kann sich aber dieses Steinchen in der wohligen Obhut seiner vertrauten Steine nicht auf Dauer. Das weiß das Steinchen auch und es möchte auch gar nicht. So anstrengend es auch ist, es möchte raus in den Strom, es möchte Freunde finden unter den glatten Steinen, mitschwimmen, Teil des Ganzen sein.

Es weiß nicht warum die anderen Steine so gut schwimmen können. Es weiß auch nicht, wie die anderen Steine sich nur so glatt schleifen konnten ohne sich dabei zu verletzen. Es weiß nur es möchte auch so sein und so bewegt sich das kleine Felsbröckchen wieder unbeholfen durch die Menge. Wenn es nur arg aufpasste, dass es nicht wieder mit anderen Steinen kollidieren würde, dann merken die anderen vielleicht gar nicht, dass es so viele scharfe Kanten hat.

Bloß keine Stromschnelle erwischen.

Vielleicht besser raus aus dem großen Strom, wo so viel los ist und schnell unkontrollierbar wird für den kleinen Stein.

Einen guten Tag findet das Steinchen in einem Fluss, der ruhig und sanft dahinfließt. Ein Strom, der ganz langsam und vorsichtig die scharfen Ecken des kleinen Steinchens abrundet. Es dauert lange und es ist so ein weiterer Weg. Aber ein Weg, der sich lohnt.

Denn ein guter Tag, ist ein Tag ohne Stromschnellen.

Und gute Tage wollen wir für unsere Steinchen haben.

Ihr kennt das bestimmt von euren Schützlingen. Diese Schwierigkeiten mit der Kommunikation. Nicht etwa unbedingt ein grundsätzliches Problem sich zu verständigen. Nein, dieses zu wörtlich nehmen von Dingen, die man sagt. Oder aber es nicht zu verstehen, wenn man über etwas redet, das absolut nichts mit der aktuellen Situation zu tun hat.

Das hat letztes mal meine Schwester zum schmunzeln gebracht, als ich ihr davon geschrieben hab, wie schwierig es doch manchmal ist, Philipp Dinge vorab zu erklären. Genau ging es da um die Thematik, dass er ja mit dem Bus in die SVE fahren sollte. Ich schrieb ihr: "Wenn man ihm das vorher immer besser erklären könnte. Aber er hört ja entweder nicht zu oder versteht nicht was man von ihm will. Wenn ich vom Bus rede und es ist aber kein Bus da und in dem Moment will er auch nicht Bus fahren, weil er ja zuhause ist, dann versteht er auch nicht, warum ich vom Bus rede."  Daraufhin rief sie mich dann an und meinte: "Wäre es nicht so ernst, könnte man fast darüber lachen, weil man sich so richtig vorstellen kann, was in seinem Kopf vorgeht..."

Das ist nur ein Beispiel, wo man genau sieht, dass Philipp oft einfach nicht versteht, warum ich über etwas bestimmtes mit ihm rede. Wenn er mittags nach Hause kommt und ich ihn dann später frage "Philipp, wie war es im Kiga? Was hast du gemacht?". Dann schaut er mich entweder nichtssagend an, so nach dem Motto: Was willst du denn jetzt? Ich bin nicht im Kiga. Kann auch sein, dass er wütend wird, weil er denkt, er soll jetzt in den Kiga gehen. Er hat einfach nicht alles verstanden. Und in jedem Fall passt das Thema nicht zu dem, was er gerade tut, also bedarf es auch keiner Kommunikation darüber. Fertig.

Sicherlich hängt da auch sein mangelndes Sprachverständnis damit zusammen. Es fällt ihm schwer sich auf alles, was man zu ihm sagt, zu konzentrieren. Und so nimmt er oft nur einzelne Wörter auf, die dann für ihn mal mehr mal weniger Sinn ergeben. Passen die Worte zur Situation, fällt es ihm leichter, den Sinn dahinter zu verstehen und dementsprechend vielleicht sogar eine Antwort zu geben oder danach zu handeln. Hat die Situation mit den Worten absolut gar nichts zu tun, rasseln die durch das Sieb durch und ein leerer Blick bleibt übrig. Immer wieder schön diese Unterhaltungen....

Witzig wirds, wenn dann Worte zu wörtlich genommen werden. Hab ich bei ihm jetzt bewusst so letztens das erste mal erlebt. Inspiriert dadurch, dass er den Start in der SVE so toll gemeistert hat, hab ich ihm eine neue Brotdose gekauft. Auf dem Deckel ein Superheld. Ich zeig ihm ganz stolz als er nach Hause kam, seine neue Brotdose. Freudensprünge habe ich ja ohnehin nicht erwartet, ich kenne ihn ja. Und sag zu ihm so: "Schau mal Philipp, ein Superheld, genau wie du. Du bist auch Mamas Superheld." Ich mach die Pose des Superhelden nach und steh also so vor ihm. Er schaut mich so an und dann seine Brotdose und meint dann nur ganz zögerlich "Nein". Natürlich ist er trotzem mein Superheld und das sage ich ihm auch noch mal, Mütter eben. Und er meint nur, als er wieder ganz skeptisch mich und dann den Deckel seiner Brotdose angeschaut hat "Nein. Geht nicht." Jetzt kennt er natürlich die verschiedensten Helden aus diversen Fernsehserien, aber er weiß auch, dass er eben keiner ist. Ich hörte dann förmlich seine Gedanken "Mama spinnt wohl, jetzt soll ich auch noch fliegen können." Ich habe ihn dann später von der Küche aus gesehen, als er dann immer wieder ganz argwöhnisch die Brotdose begutachtet hat und musste dann echt lachen. Da hatte ich wieder was angerichtet.

Was sind schon Worte? Uns gehen sie leicht und oft zu schnell über die Lippen. Wir verstehen ganz leicht den Sinn dahinter, wenn uns jemand auffordert etwas zu tun oder uns etwas erzählt wird. Wir hören die Ironie aus manchen Aussagen heraus. Lachen über einen Witz und wissen, wenn etwas mal nicht so ernst gemeint ist. Erkennen, wenn etwas übertrieben ist oder vielleicht einmal geflunkert wird. Das alles fällt unseren Kindern unheimlich schwer. Oft macht es das Leben mit ihnen schwerer und manchmal führt es einfach dazu, dass man ein wenig was zu schmunzeln hat.

Dafür und noch für viele andere Dinge liebe ich meinen Superhelden.

Auch wenn er nicht fliegen kann.

 

Ich dachte immer wir leben in einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft. Doch ist das so? Mehr als einmal mussten wir das die letzten Jahre in Frage stellen.

In einer Zeit, wo der Egoismus der Menschen scheinbar immer größer wird, ist kein Platz für "Andersartigkeit". Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber anderen Menschen ist für viele fremd.

"Mit so etwas muss ich mich nicht befassen, es betrifft mich ja schließlich nicht."

Vielleicht liegt es auch in der Natur des Menschen, sich nicht mit den Schattenseiten des Lebens auseinanderzusetzen. Dabei warten so viele wunderbare Menschen im Schatten nur darauf, dass man ihnen die Hände reicht und mit ihnen ein paar Sonnenstrahlen genießt.

Jeder kann schon morgen betroffen sein.

Jeder kann morgen schon durch einen Unfall sein Bein verlieren, gehörlos werden, wird Mutter oder Vater eines besonderen Kindes, der Nachbarsjunge ist Autist, die Schwester bekommt ein Kind mit Down-Syndrom, vielleicht geht das eigene Kind mit besonderen Kindern in den Kindergarten oder in die Schule. Was sagt ihr zu euren Kindern, wenn sie sagen, dass dieses eine Kind immer so komisch ist, mit ihnen nicht redet, oder immer schreit und vielleicht aggressiv ist?

Nichts?

In den meisten Fällen, das erkennt man am Verhalten der Kinder, ist es wohl eher etwas in dieser Richtung:

"Geh diesem Kind einfach aus dem Weg. Du musst nicht mit dem Kind spielen."

Die nächste intolerante Generation wächst heran. Ein Urteil wurde über ein Kind gefällt, das man gar nicht näher kennt. Von dem man oft nicht einmal die Besonderheit (um nicht zu sagen die Behinderung) kennt, vielleicht weil man sie nicht sieht oder weil man gar nicht danach fragt. Im Zweifel nicht nachfragen, gehört sich irgendwie nach wie vor nicht in unserer Gesellschaft, dass man offen so ein Thema anspricht. Liebe (interessierte) Eltern, wir erzählen euch gerne über die Besonderheiten unserer Kinder. Nicht um uns wichtig zu machen. Nein. Wir freuen uns nur, wenn andere Menschen verstehen. Verstehen wie unsere Kinder sind und sie nicht aufgrund von Unwissenheit bewerten.

Unser Philipp war jetzt fast drei Jahre im Kindergarten und eine einzige Mama hat sich wirklich ausführlich erkundigt, was jetzt genau mit ihm los ist. Ihre Tochter hätte ein wenig Angst vor ihm gehabt und sie hätte ihr dann erklärt warum Philipp manchmal so anders ist und einfach auch nicht spricht. Daraufhin hat sich die Mama bei mir rückversichert, ob sie das denn richtig erklärt hat.

Leider ist das die große Ausnahme. Keine Einladungen zu Spiele-Nachmittagen, keine Einladungen zu Geburtstagsfeiern, keine Freunde. So sieht die traurige Realität aus. Ich nenne es mal geleitete Akzeptanz durch die Erzieher.

Integration ein nettgemeinter Versuch die Menschen per Gesetz zu zwingen sich mit behinderten Menschen abzugeben?

Natürlich kann man Freundschaften nicht erzwingen, aber Kinder spiegeln das wieder, was wir ihnen vermitteln. Und wenn man sich entschließt sein Kind in eine integrative Kindergarten-Gruppe zu geben, sollte man sich zusammen mit seinem Kind mit den Besonderheiten dieser Kinder auseinandersetzen.

Alles was wir Eltern besonderer Kinder uns wünschen ist Toleranz und Akzeptanz. Wir möchten nicht, dass unsere Kinder angestarrt oder bemitleidet werden. Wir möchten auch nicht, dass unsere Kinder aufgrund ihres Verhaltens, das Teil ihrer Besonderheit ist, bewertet und abgegrenzt werden.

Geht ein bisschen offener durchs Leben und tragt das Wissen in euch, dass manche Kinder für ihr Verhalten nichts dafür können, aber ansonsten wie eure eigenen Kinder sind. Mit den gleichen Bedürfnissen nach Liebe, Geborgenheit, Freundschaft und Akzeptanz. Stellt euch nur mal vor, wie es für euch wäre, wenn euer Kind zum Außenseiter gemacht wird, ohne, dass euer Kind etwas daran ändern kann.

Unsere besonderen Kinder leben im Schatten, aber auch sie lieben die wärmende Sonne. Wir Eltern leben in der Sonnenwelt, wir existieren hier, aber unser Herz hängt an der Schattenwelt. Es gibt Zeiten, da wird man regelrecht hineingezogen, fühlt sich manchmal sogar darin sicher. Keine schiefen Blicke, die man ertragen muss, kein Kopfschütteln, keine ständigen Erklärungsversuche und wenn auch nur für einen Moment, seinem Kind näher zu sein als sonst. Aber wir sind nun mal Sonnenmenschen und müssen wieder aus dem Schatten treten. Sind wieder einen Schritt unseren besonderen Kindern voraus. Manchmal gelingt es uns, unser Schattenkind mit in die Sonne zu nehmen, aber sie vertragen nun mal nur begrenzt die Sonne. So verschwinden sie wieder im Schatten und die Bemühung auf ein Leben Hand in Hand mit unseren Kindern durchs Leben zu gehen, beginnt von vorne.

Ja, wir sind Sonnenmenschen.

Unser Sohn lebt im Schatten.

Das Schicksal wollte es so. Auch wenn wir es uns manchmal wünschten, dass uns dieser Schatten nicht folgt, er tut es. Und immer wenn die Sonne steigt, der Schatten kürzer wird und unseren Philipp zeigt, sind wir so glücklich, dass uns dieser Schatten folgt.

Denn eines ist klar.

Der Schatten gehört zur Sonne, so wie Philipp zu uns und besondere Kinder zur Gesellschaft.

Darum schließt sie nicht aus. 

Akzeptiert sie.

Bemüht euch um sie.

Und ihr werdet sehen, dass ein Kind vor euch steht, dass auch einfach nur dankbar für ein bisschen Sonne in seiner sonst so dunklen und kühlen Schattenwelt ist.

Wenn sich im Leben etwas ändert, ein neuer Lebensabschnitt beginnt, dann schwingt ja grundsätzlich so ein bisschen Wehmut mit. Man wechselt die Arbeitsstelle, verliert liebgewonne Arbeitskollegen, man durchlebt eine Trennung, der Verlust eines Angehörigen...

Gerade sind wir ehrlich gesagt sehr traurig. Traurig für Philipp. Denn für ihn endet gerade ein bisher sehr wichtiger Lebensabschnitt. Er verlässt den Kindergarten, in dem er jetzt fast drei Jahre verbrachte. Aber nicht etwa, weil er jetzt in die Schule kommt. Leider nicht...

Vorweg muss man sagen, dass Philipp nach diesem Kindergartenjahr ohnehin gewechselt hätte. Wir waren auf der Suche nach einer passenden Schule und am Ende hatten wir einen Platz in einem Heilpädagogischen Kindergarten, einer SVE angekoppelt an die Pestalozzischule für geistig behinderte Kinder, die er im Anschluss wahrscheinlich besuchen wird. Bis zu seinem Wechsel aber freuten wir uns eigentlich noch auf eine weitere gute Zusammenarbeit mit seinem bisherigen Kindergarten und vor allem, dass er noch mit viel Spaß und Freude seine letzten Wochen dort verbringen konnte.

Aber es kam wieder einmal anders...

In der vorletzten Woche vor den Osterferien kam es im Kindergarten zu einem Vorfall zwischen Philipp und einer Therapeutin. Weiter ausführen möchte ich dies aus Schutz der beteiligten Personen, auch wenn nicht verdient, nicht. Es aufgrund von zwei Terminen so, dass er danach auch nicht direkt im Kindergarten war. Grundsätzlich war er an einem Punkt angelangt, wo er einfach seine Belastungsgrenze nicht schon erreicht, sondern definitiv überschritten hatte und das tageweise schon über einen längeren Zeitraum. Für uns, wenn wir die Warnsignale sehen, ein Grund zum Handeln. Wir legen dann gerne paar Tage Pause ein, lassen eine Therapie dann mal ne Woche aus oder ziehen, wenn die Ferien nahe sind, diese mal vor. Hallo, immerhin geht Philipp noch in den Kindergarten. Er hat mehr zu leisten, als andere Kinder in seinem Alter und da ist es nur verständlich, dass er mal mehr Pause braucht.

Wir hatten das Wochenende versucht so wenig aufregend wie möglich zu gestalten, aber wir haben dann schnell gemerkt, dass die Luft raus war. Und er war dann auch wirklich in einem Zustand, der für uns so extrem noch nie zu sehen war und wodurch wir sehr besorgt waren. Er war kaum ansprechbar, war komplett in seiner "Aufzug-Welt" und hatte einfach zu nichts mehr Lust. Wollte nichts machen, zuhause nicht, nicht rausgehen, nicht wegfahren, auch nicht in den Kindergarten gehen. Neben unserer Sorge wegen seines Allgemeinzustandes, machte sich eine weitere breit. Hoffentlich geht er überhaupt wieder in den Kindergarten. Als mein Mann ihn dann im Kindergarten abgemeldet hatte, mit der Option, dass er am Freitag vielleicht zur Osterfeier kommen würde, bekam er zu hören, als er sagte, Philipp möchte absolut nicht in den Kindergarten gehen, dass wir ihm doch nicht alles durchgehen lassen dürften. Ähm, ja schon klar. 

Es kam dann der Freitag und wir fuhren zum Kindergarten. Meine Vorahnung wurde bestätigt. Philipp fing fürchterlich an zu schreien und hat sich geweigert auszusteigen. Die Gruppenleiterin hatte es versucht, ob er mit ihr mitkommen mag, aber es war nichts zu machen. 

Mittlerweile ist er jetzt die sechste Woche zuhause und der Kindergarten ist nach wie vor ein rotes Tuch für ihn. An seinem Wochenplan werden keine Kindergartensymbole akzeptiert, nur diese mit "X", die kindergartenfrei symbolisieren. Sprechen wir über den Kindergarten, sagen wir, dass er doch wieder hin soll, mit den anderen Kindern spielen etc., wird er je nach Länge des Gesprächs regelrecht hysterisch, kontrolliert mehrmals täglich ob sein Wochenplan noch stimmt. Ein Versuch uns mit der Kiga-Gruppe auf einem Spielplatz zu treffen, verlief auch absolut nicht gut. Er krallte sich regelrecht an mir fest und wollte weder von den Kindern noch den Erzieherinnen etwas wissen.

Ein runder Tisch mit allen beteiligten und vermittelnden Personen brachte leider auch keine Lösung. Was uns dabei noch enttäuschte nicht einmal eine Entschuldigung von einer dieser Personen kam. Im Gegenteil, Erklärungsversuche, dass es pädagogisch richtig gewesen sei. Eine "Wenn... dann..."-Debatte sei dem Vorfall vorangegangen, die mit einem Handschlag oder Highfive von Philipp so besiegelt wurde. Worauf das weitere Geschehen gerechtfertigt wurde. 

Klar muss man grundsätzlich sagen, wenn ich mit einem Kind etwas ausmache und meinetwegen einen Handschlag darauf bekomme, dann muss auch die logische Konsequenz sein, dass man das, worauf man sich geeinigt hat, dann auch durchzieht und nicht aufgrund von "bockigem" Verhalten es dann bleiben lässt. Logisch würde man so ein falsches Signal senden.

Aber diesem pädagogischen Grundsatz vorausgesetzt, ist natürlich die Frage, hat mich das Kind auch wirklich verstanden? - Wir wissen, solche "Wenn... Dann..." Diskussionen sind mit Philipp kaum zu führen, schon gar nicht rein sprachlich, mit bildhafter Unterstützung in einem ruhigen Moment schon eher.

Was sagt mir das Kind eigentlich mit seinem Handschlag? - Ein Highfive heißt bei Philipp lediglich "gut gemacht" oder "Thema erledigt". Eine Einverständniserklärung zu irgendetwas gibt er damit nicht.

Warum reagiert das Kind so? - Gerade von Fachpersonal könnte doch erwartet werden zu erkennen, ob das Kind trotzig und bockig ist, oder vielleicht einfach überfordert ist. Und dann vor allem, wenn man als Mutter am Morgen noch gesagt hat, dass Philipp einfach schon total müde und ausgelaugt ist.

Und nun ist es leider, wie es ist. Philipp möchte nichts mehr vom Kindergarten wissen. Ein Abschied, der einen so bitteren und traurigen Beigeschmack hat. Wir sind so unendlich traurig. Was in ihm vorgeht, wir können es leider nur erahnen, denn er sagt es uns ja nicht. In seinem Verhalten spüren wir, dass er gerade sehr froh darüber ist bei uns den Schutz und die Sicherheit zu finden und zu bekommen. Mittlerweile gebärdet er "weinen", wenn wir am Kiga vorbeifahren oder ihn danach fragen. Das sind seine Emotionen, nichts was wir ihm hätten einreden können oder was er aufgrund dessen, worüber wir uns unterhalten, zeigt, denn wir reden nicht abfällig über diesen Vorfall vor ihm, um ihm den Weg vielleicht doch noch mal zurück zu ermöglichen. Wie schon gesagt, der Abschied wäre ohnehin bald gekommen, aber nicht so. Nicht so abrupt. Und vor allem nicht mit einem alles überschattenden Vorfall. Drei Jahre seines Lebens, die er vielleicht für immer aus seinem Gedächtnis verdrängt, weil sie jetzt negativ behaftet sind.

Wir waren wütend, traurig, entsetzt.... Mittlerweile sind wir einfach nur noch maßlos enttäuscht.

Philipp hier als Patient, der mit offenbar großen Schmerzen vor der Ärztin zusammenbrach
Philipp hier als Patient, der mit offenbar großen Schmerzen vor der Ärztin zusammenbrach

Eigentlich sollte das ja jetzt ein vor Freude nur so überschäumender Beitrag werden. Eigentlich ... Es war ja auch wirklich ein super entspannter Tag. Eigentlich ... Und vor allem ein Tag, der wieder hoffen lies. Eigentlich ... 

Wie so oft waren die Jungs und ich wieder mal bei meiner jüngeren Schwester zu Besuch. Das Wetter war herrlich warm, wir saßen alle im Garten und genossen jeden einzelnen Sonnenstrahl. Ein rundum abgeschlossener Garten, ohne "Fluchtmöglichkeiten", da kann auch ich mal entspannen und einen Ratsch mit meiner Schwester genießen.

Und Philipp war wirklich super drauf. Nicht nur, dass er sich schon richtig gefreut hat, als ich sagte, dass wir zur Tante und seinen Emis (so nennt er alle seine Cousinen) fahren, er war auch richtig glücklich als wir bei ihnen ankamen und er spielte sogar mehr oder weniger fast den ganzen Nachmittag mit seiner jüngeren Cousine. Was mich aber bei dem Spielen so unglaublich glücklich gemacht hatte, war Philipps erstes richtiges Rollenspiel. Vereinzelt macht er Rollenspiele, aber wenn überhaupt nur alleine. So kocht er beispielsweise in seiner Küche, aber selten bekomme ich oder gar sein Bruder davon was zu essen. Und er imitiert dabei nicht mich, obwohl er mich ja täglich in der Küche sieht, er spielt den Film "Ratatouille" nach. Seit er diesen gesehen hat, kocht er. Davor hatte ihn die Küche kaum interessiert.

Aber heute hatte er wirklich mit seiner Cousine "Arzt" gespielt. Mal war er der Patient und ist scheinbar schmerzerfüllt zusammengebrochen und wurde von seiner Cousine verarztet und dann wurde wieder gewechselt und er war der Arzt. Hat abgehört, Medikamente verabreicht, Pflaster angelegt. Es war einfach schön zuzuschauen. Und die Hoffnung steigt natürlich, dass er sich doch mal weiterentwickelt und vor allem Freude am Spiel mit anderen Kindern hat. Man muss natürlich an dieser Stelle auch sagen, dass seine drei Cousinen ihn wirklich einfach so nehmen wie er ist. Und vor allem die Jüngste, die ein gutes Jahr jünger ist, als wie Philipp, ist mit ihm so groß geworden und kennt es einfach nicht anders, liebt ihn so wie er ist. 

So nun endet aber jeder Tag irgendwann und wir müssen wieder nach Hause fahren. Philipp hatte wenig Lust dazu. Natürlich hätte ich auch gerne länger bleiben wollen, aber wir waren nun mal ohne den Papa unterwegs. Und auch wenn dieser absolut nicht erwartet, dass wir brav zuhause zu sein haben, wenn er von der Arbeit kommt, so ist es für uns als Familie einfach wichtig, wenn wir zumindest abends dann noch Zeit miteinander verbringen und vor allem wenigstens eine gemeinsame Mahlzeit am Tag haben.

Auf dem Plan stand, nach Hause fahren und auf dem Weg beim "goldenen M" zu halten und dort was zu Essen mitzunehmen. Das habe ich auch Philipp mitgeteilt, woraufhin er doch bereitwillig ins Auto eingestiegen ist. Er verteilte noch viele Küsschens an seine Tante und seine Cousinen und es gab auch noch ein paar "Hab dich lieb"s und dann fuhren wir los. 

Alles schien zu passen. Eigentlich ...

So dann fing es an. "Nein. X. X. X." schrie er als ich die Straße runter fuhr und auf das kleine Brückchen abbiegen wollte, wo man zur Bundesstraße kam. Gut, dachte ich mir. Ist egal. Fahr ich halt nicht da lang, sondern gerade aus weiter und fahre dann an der Ampel auf die Bundesstraße. Dort angekommen, hat er gemerkt, dass wir wieder quasi auf "unserem Weg" waren und er hat wieder zu brüllen angefangen. Nur was sollte ich machen, nach Hause fahren musste ich ja und ich konnte ja nicht über Pontius und Pilatus fahren.

Es eskalierte komplett. Er eskalierte komplett. Er hat gebrüllt, getreten, wie wild um sich geschlagen. Er saß vorne auf dem Beifahrersitz. Er versuchte mich zu beißen, mir ins Lenkrad zu greifen. Er hat sich so schlimm gegen den Kopf und Gesicht geschlagen, dass er sich dabei die Lippe blutig gekratzt hat. Ich hatte mit meinem Arm seine Schläge abgehalten und bin langsam weiter gefahren. Mir war schnell klar, wo sein Problem lag. In seinem Kopf war einfach nur, dass wir zum "M" fahren. Und er weiß ja schon, dass bei uns zuhause kein "M" ist. Jetzt befanden wir uns aber auf dem Nachhauseweg. Dass wir natürlich nicht, dass Essen da mitnehmen, wo wir fast ne Stunde bis nach Hause brauchen, sondern einen kleinen Umweg über unsere Nachbarstadt machen, das kann er ja nicht wissen. Für ihn war wohl klar, dass wir nicht mehr zum "M" fahren.

Jetzt konnte ich natürlich in diesem Moment die Situation für ihn nicht zufriedenstellend ändern, was wir sonst immer versuchen, wenn so etwas passiert. Ich konnte es ihm auch nicht mehr erklären, denn meine Worte kamen in diesem Moment nicht mehr an. Ich wollte auch nicht mehr stehen bleiben, aus Angst, dass er direkt versucht aus dem Auto abzuhauen. Und da ich ja den Grund seiner Wut nicht ändern konnte, musste ich befürchten, dass sich sein Anfall erst legen würde, wenn er wirklich vor Erschöpfung nicht mehr gekonnt hätte. Und aus unserer Erfahrung mit ihm wissen wir ja leider, dass er da sehr ausdauernd sein kann.

So fuhren wir nach Hause, mein ausgestreckter Arm fing die Schläge ab, wenn er wieder zu toben anfing, wenn er wieder ruhiger wurde, habe ich seine Hand gehalten, bis die nächste Welle unbeschreiblicher Wut und Verzweiflung über ihn kam, er aus dem Nichts meine Hand gepackt hat und versuchte reinzubeißen. Fast eine Stunde Autofahrt und endlich erreichten wir unser Nachbarstädtchen. Direkt am Kreisverkehr sieht man dann schon groß das alles überragende "M". Und noch während ich in den Kreisverkehr einbog, war alle Wut verflogen. Bis zum "M" kamen noch ein paar Schluchzer und aufgeregte Geräusche von ihm und dann war alles vorbei. So schnell wie es aufgezogen war, das Gewitter, so schnell war es rum und die Sonne schien wieder.

Es gab Tage, da wäre ich danach auch fix und fertig gewesen. Und nein, auch heute, ging es mir selbstverständlich nahe und ich habe mitgelitten. Ja, wäre auch am liebsten aus dem Auto gesprungen, oder hatte zwischendrin das Bedürfnis ihn anzuschreien. Ich habs aber nicht getan. Denn egal was ich in dem Moment tue, es ändert nichts daran. Ob ich wütend werde oder ihn versuche zu trösten, es hilft ihm nicht. Aber ich denke schon, wenn ich meine Emotionen egal in welche Richtung, einfach in dieser Situation unter Kontrolle habe, gebe ich ihm in dem Moment die Sicherheit, die er braucht. Er braucht niemanden, der ihn anschreit, denn er versteht gar nicht warum und er braucht auch keine Mama, die in Tränen ausbricht, weil das verwirrt ihn nur zusätzlich. Er braucht eine starke Mama, einen starken Papa, die einfach da sind. Er geht da nicht alleine durch und das weiß er. Auch sein kleiner Bruder profitiert davon. Als Philipp zu schreien und zu treten begann, hatte er furchtbar Angst bekommen, geweint und nach mir gerufen. Ich hab ihm dann gesagt, dass alles in Ordnung ist. Und auch, wenn meine beruhigenden Worte bei Philipp nicht ankommen, so dann doch bei Florian und so war es für ihn dann gleich wieder in Ordnung. Er kennt die Ausbrüche seines Bruders, lebt damit und wenn er sieht, dass wir ruhig bleiben, gibt es für ihn auch keinen Grund zur Sorge.

Das Erlebnis hat mir aber heute einfach wieder einmal gezeigt, wie missverständlich die Kommunikation mit Philipp oft ist. Jetzt machen wir ja wirklich viel für ein besseres Sprachverständnis. Wir sprechen langsam mit ihm, benutzen einfache Sätze, bauen ihm gut bekannte Schlüsselwörter ein, lernen mit ihm Gebärden, haben unseren Alltag durch Bildkarten strukturiert. Aber dennoch ist es immer noch schwierig. Nachdem er seinen Tages-/Wochenplan so gut akzeptiert und auch alles andere an Bildern, die wir zur Erklärung verwenden gut annimmt, werden wir jetzt verstärkt daran arbeiten, dass wir noch gezielter mit Bildern kommunizieren.

Nicht immer können wir für ihn unangenehme Situationen vermeiden, aber derartige Eskalationen, die maßlose Wutausbrüche zur Folge haben aufgrund von Missverständnissen in der Kommunikation versuchen wir ihm und uns einfach zu ersparen. Denn eines ist klar, zu verstehen ist immer noch das wichtigste für ein menschliches Miteinander. Sprache verstehen, Situationen verstehen, Emotionen verstehen, das Leben verstehen. Doch fehlt die Sprache, wird das Verstehen in allen weiteren Bereichen auch sehr schwierig bis unmöglich. Darum ist der erste Schritt der wichtigste, eine Kommunikationsebene zu schaffen, die die Welt für unsere Kinder verständlich macht und uns sie verstehen lässt.